PAL-Beiratsmitglied Matthias Loehr hat als Lausitzer Teamleiter des vom DGB initiierten Projektes Revierwende insbesondere die Interessen und Ideen der Beschäftigten im Strukturwandel im Blick. Eine Befragung von Jugendlichen auf der Karrieremesse IMPULS in Cottbus hat ihm gezeigt: Was gerade in der Region passiert, kommt noch viel zu wenig in der Bevölkerung an.
Herr Loehr, im Februar 2023 haben Sie auf der Karrieremesse Impuls in Cottbus 200 Schülerinnen und Schüler gebeten, per Fragebogen verschiedene Fragen zum Thema Strukturwandel zu beantworten. Was hat Sie bei der Auswertung am meisten überrascht?
Matthias Loehr: Lassen Sie mich gern noch einen Schritt zurückgehen zu einer interessanten Beobachtung, die ich bereits während der Befragung machen durfte. Da hat mich besonders überrascht, dass junge Paare, die gleichzeitig unseren Fragebogen ausgefüllt haben, oftmals gegensätzlich abgestimmt haben, d.h. z.B. hat der Mann den Kohleausstieg negativ bewertet, die Frau wiederum positiv. In der Auswertung hat sich dann bestätigt, dass mehr weibliche als männliche Personen dem Strukturwandel gegenüber positiv eingestellt sind.
Es gibt hier durchaus Unsicherheiten und Fragen, was den weiteren Prozess angeht. Das korreliert auch mit unseren Fragen, wo man seine Perspektive sieht und wie gut man sich über den Strukturwandel informiert fühlt. Jugendliche, deren Familien über drei Jahrzehnte den wirtschaftlichen Niedergang der Region erlebt haben, sind nachvollziehbarerweise skeptisch.
Sie haben es eben bereits angedeutet: Die befragten Jugendlichen fühlen sich in großer Mehrheit nicht ausreichend einbezogen in den Strukturwandel ihrer Heimat bzw. hatten keine Meinung dazu. Gleichzeitig spricht nur die Hälfte von ihnen überhaupt mit Freunden und Familie über dieses Thema. Woran könnte das Ihrer Meinung nach liegen?
Matthias Loehr: Aus unserer Sicht fehlt hier eine begleitete, öffentlichkeitswirksame Sichtbarkeit. Sicher berichten Medien zum Thema, aber viele Menschen informieren sich heute auf anderen Kanälen. Wir müssen der jungen Generation bei diesem Thema auch eine Stimme geben, damit sie aktiv in diesem Prozess mitwirkt.
Und was könnte man aus Ihrer Sicht tun, um dieses so wichtige Zukunftsthema zu einem relevanten Aspekt ihrer aktuellen Lebenswelt zu machen?
Matthias Loehr: Wir plädieren klar für eine gemeinsame Kampagne von Sachsen und Brandenburg, die das Thema sichtbar macht, z.B. über Onlinemedien, Plakate oder die Gestaltung leerer Schaufenster.
Ich halte es für äußerst wichtig, dass wir die hiesige Bevölkerung als Multiplikatoren gewinnen. Die hier lebenden Menschen sind es, die nach außen tragen müssen, wie toll das eigentlich ist, was hier gerade passiert. Hier werden über 17 Milliarden in der Region ausgegeben für sinnvolle Projekte, für zukunftsfähige Arbeitsplätze, für eine gesunde Umwelt, dafür, dass wir weiterhin sauberes Wasser haben. Allein mit den hier lebenden Menschen werden wir diesen spannenden Prozess nicht bewältigen können, wir sind zwingend auf den Zuzug von Fachkräften angewiesen.
Und: der Strukturwandel gehört unbedingt auch in den Schulunterricht!
Allerdings zeigte sich nur ein Viertel der Jugendlichen in der Befragung überzeugt davon, dass durch den Strukturwandel gute Arbeitsplätze entstehen. Mit welchen Argumenten würden Sie die anderen denn überzeugen?
Matthias Loehr: Unsere Aufgabe ist es, den jungen Menschen das Wissen und die Sicherheit darüber zu vermitteln, dass es hier gute Jobs gibt und weitere gute Jobs entstehen werden. Um nur einige Beispiele zu nennen: Es werden im Industriepark Schwarze Pumpe, durch das neue ICE-Instandhaltungswerk, das Deutsche Zentrum für Astrophysik in Görlitz, den Lausitzer Science Park und durch die neue Unimedizin in Cottbus mehrere tausend vielfältige und attraktive Arbeitsplätze entstehen. Das müssen wir viel mehr in die Schulen und somit an die jungen Menschen kommunizieren.
Wir werden nicht vor der Notwendigkeit stehen, dass wir viele Beschäftigte aus der Kohle in andere Bereiche transferieren, denn viele bisher in der Kohleindustrie beschäftigte Menschen werden in den nächsten Jahren in den Ruhestand gehen. Es gab auch im Kontext Kohle bereits vielfältige berufliche Möglichkeiten, zum Beispiel verschiedene Ingenieurberufe. Diese werden auch in den neu entstehenden Unternehmen gefragt sein. Und auch im handwerklichen Bereich werden viele der gut ausgebildeten Beschäftigten gern genommen.
Trotz der Unsicherheiten hinsichtlich der Entwicklung der Region sieht immerhin die Hälfte der befragten Jugendlichen Perspektiven und möchte deshalb in der Lausitz bleiben, 17 Prozent allerdings sind sich sicher, dass sie die Region verlassen werden. Wie können wir diese Jugendlichen davon überzeugen, zu bleiben (und ist das tatsächlich unbedingt notwendig)?
Matthias Loehr: Junge Leute müssen nicht unbedingt sofort nach der Schule eine Ausbildung oder ein Studium beginnen. Bei einem freiwilligen sozialen Jahr oder einem Auslandsaufenthalt können sie ja auch erst einmal schauen, was sie gern machen möchten und sich von den Erwartungen der Eltern lösen.
Schön wäre es, wenn die, die weggehen, später zurückkehren. Und da müssen wir ganz klar die Frage stellen: Verlassen die jungen Leute die Region mit der Perspektive, zurückzukommen oder nicht? Und sind sie sich der guten Perspektiven in unserer Region denn bewusst? Letzteres sollte auf jeden Fall unser Ziel sein.
Was bedeutet das für die Unternehmen der Region? Und welche Aufgabe sehen Sie dabei bei den in der Region ansässigen Unternehmen?
Matthias Loehr: Ich halte es für elementar, dass die jungen Leute mit den ansässigen Betrieben schon frühzeitig in Kontakt kommen, schon während der Schulzeit, damit sie im Kontext der beruflichen Orientierung auch die vielfältigen Möglichkeiten kennenlernen.
Die Lausitzer Firmen sollten ein ureigenstes Interesse daran haben, den lokalen Nachwuchs nicht durch Abwanderung zu verlieren und sich deshalb intensiv engagieren und vernetzen, z.B. durch das Angebot von Schulpraktika, durch Kooperationen mit Schulen für frühzeitig mit Schulen usw. Natürlich gehört auch eine angemessene Bezahlung bereits in der Ausbildung dazu. Wir stehen im internationalen Wettbewerb um die Köpfe, da helfen beispielweise Tarifverträge für die stärkere Bindung der jungen Generation.
Zusammen mit dem LJBW (Landesverband Sächsischer Jugendbildungswerke e.V.), der auch das ostsächsische MINT-Cluster MINOS betreut, hat Silicon Saxony ein neues Projekt gestartet, bei dem es darum geht, möglichst viele IT-affine Beschäftigte sächsischer Unternehmen dafür zu begeistern, als Coach ein Ganztagsangebot (GTA) „Programmieren mit dem Calliope Mini“ an einer Grundschule zu geben. Damit soll ein konkretes Angebot für MINT-begeisterte Kids geschaffen werden, denn bisher sind solche GTA meistens musisch oder sportlich orientiert. Wäre das nicht auch etwas für Lausitzer Unternehmen?
Matthias Loehr: Ressourcen für solche Aktivitäten bereitzustellen, das schafft sicher nicht jedes Unternehmen. Natürlich ist es immer eine Abwägung, wenn ich das jetzt mache, habe ich für was anderes keine Zeit. Klar ist aber auch: wenn wir uns dieser Aufgabe in den nächsten Jahren nicht widmen, wird der Markt das entscheiden, und zwar gegen die hiesigen Unternehmen. Deshalb ist es wichtig, dass die Firmenleitungen sich auch Zeit nehmen für solche Engagements und die Unternehmerverbände können sie darin unterstützen und entsprechend vernetzen.
Wie sollten Unternehmen die Jobs der Zukunft gestalten?
Matthias Loehr: Um die wenigen in der Lausitz ansässigen Großunternehmen müssen wir uns nicht kümmern, die haben für den Transformationsprozess selbst Ressourcen. Ich halte es für wichtig, den kleinen Betrieben, vor allem denen, die zwischen 100 und 250 Beschäftigte haben, noch stärker vor Augen zu führen, wie kritisch die demografische Situation ist. Sie also zum Beispiel mal zu fragen: „Hast du das für dein Unternehmen mal durchgerechnet?“
Deutschland bietet viele Fördermöglichkeiten an. Klar ist das erst einmal ein bürokratischer Aufwand, aber es bedeutet auch, dass man sich der Herausforderung nicht allein stellen muss, sondern unterstützt wird.
Und Unternehmen sollten jetzt aktiv werden, denn nun stehen die Fördermittel für den Umbau der Region zur Verfügung, zum Beispiel sind jetzt die JTF-Förderrichtlinien fertig für Betriebe, die von der Transformation in eine klimaneutrale Wirtschaft betroffen sind.
Mit Blick auf das Projekt PerspektiveArbeit Lausitz – Wie digital muss denn Ihrer Meinung nach ein Unternehmen sein, damit junge Leute Lust haben, sich dort als Fachkraft zu bewerben?
Matthias Loehr: Dass die Digitalisierung, die Anwendung von KI-Lösungen auch für kleinere Unternehmen äußerst relevant ist, um im Transformationsprozess nicht abgehängt zu werden und für Nachwuchsfachkräfte attraktiv zu sein, ist leider noch nicht bei allen Unternehmen angekommen.
Die jungen Leute wachsen heute alle mit dem Smartphone auf. Ich bin der Meinung, dass ich im Jahr 2023 nicht mehr erwarten kann, dass mir jemand eine ausgedruckte Bewerbungsmappe schickt, von solchen Standards müssen wir uns wohl verabschieden.
Mit ihren Kompetenzen, die die jungen Leute ins Unternehmen mitbringen, können sie den Digitalisierungsprozess unterstützen. Viele Vermieter arbeiten bei Wohnungsübergaben beispielsweise noch immer mit Übergabeprotokollen aus Papier, anstatt das Dokument gleich digital anzulegen. Das ist für die jungen Leute selbstverständlich und fordert sicher erstmal einen Teil der älteren Belegschaft.
Voraussetzung dafür ist, dass ich als Arbeitgeber das Potenzial des Nachwuchses erkenne und nutze, eben zum Beispiel, indem ich sie die Prozesse anschauen und anpassen lasse. Das finde ich gut an der asiatischen Unternehmenskultur, die ihre Beschäftigten aktiv dazu anhält, Verbesserungsvorschläge zu machen.
Und ganz konkret in Hinblick auf Automatisierung: Ich denke, Roboter können vor allem eintönige Arbeiten übernehmen, für die man nur noch schwer Personal findet.
Mehr als die Hälfte der Jugendlichen würde sich stärker in der Region engagieren, wenn sie angesprochen würden – das scheint eine große Chance zu sein, um den Nachwuchs aktiv in den Strukturwandel einzubeziehen. Haben Sie dafür Ideen oder Empfehlungen? Welche Player sollten sich hierfür an einen Tisch setzen?
Matthias Loehr: Ich würde immer dort anfangen, wo es schon in irgendeiner Form organisierte Strukturen gibt. In der Lausitz gibt es ja zahlreiche Jugend- und Sportverbände, zum Beispiel die „Junge Lausitz“, die sollte man unbedingt einbeziehen. Wir haben begonnen, uns mit einigen zu vernetzen. Ich halte es für extrem wichtig, dass wir uns die Meinungen dieser jungen Menschen anhören, sie fragen: „Was wünscht ihr euch, was erwartet ihr von diesem Prozess, was sind eure Anforderungen?“
Und ich bin wie schon gesagt der Meinung, dass das Thema viel stärker in den Unterricht gehört. Da kann man, glaube ich, schon sehr früh bei den weiterführenden Schulen ansetzen, indem man sich mit der Geschichte der Region befasst, also zurückschaut und auch diskutiert, wohin sich die Region entwickelt.
Alle Grafiken bereitgestellt durch Revierwende