Auf der 15. Internationalen Fachkonferenz AHFE wurden auch Projekte aus dem Kompetenzzentrum PerspektiveArbeit Lausitz vorgestellt.
Tag 1
Der Mittfünfziger neben mir im Flieger, braun gebrannt, helle Leinenhose, weißes Jackett, tippt emsig Passagen aus einem Buch in seinen Laptop. Die Headline des Textes, an dem er schreibt, springt mir mit gewaltig großen Buchstaben entgegen: „I am a successful man.“ Schreibt der Mann an seiner Autobiografie? Ist er Kabarettist und arbeitet an einem neuen Bühnenprogramm? Oder will er mit dieser Überschrift eine Botschaft an die in seiner Nähe sitzenden Menschen senden? Wenn ja, welche? Und überhaupt: Wann ist ein Mensch erfolgreich? Was bewegt diesen Mann auf dem Flug von Zürich nach Nizza dazu, an einem Text mit dieser Überschrift zu arbeiten?
Diese Fragen purzeln durch meinen Kopf, während unser Flieger langsam an Höhe verliert und in einer Kurve elegant über den Strand von Nizza zum Flughafen gleitet. In der französischen Stadt am Mittelmeer, in der es noch wärmer ist als daheim in Dresden, nehme ich in den kommenden Tagen an der 15. Internationalen Fachkonferenz AHFE (diese Abkürzung steht für „Applied Human Factors and Ergonomics“) teil.
Ich bin nicht allein auf dieser Reise. Mehrere Wissenschaftler und Wissenschaftlerinnen von der Hochschule Mittweida und der Westsächsischen Hochschule Zwickau sind mit mir hier vor Ort. Wir arbeiten gemeinsam im Kompetenzzentrum für die Arbeit der Zukunft in Sachsen und Brandenburg PerspektiveArbeit Lausitz (PAL), einem interdisziplinären Verbund, in dem zur Entwicklung und Einführung datenbasierter Assistenzsysteme und Automatisierungslösungen geforscht wird, die als individuelle Lösungen für KMU in der Strukturwandelregion und darüber hinaus anwendbar sind.
Die AHFE ist eine der wichtigsten jährlichen Veranstaltungen für alle, die sich mit Arbeits- und Ergonomie-Forschung befassen. Wir wollen hier einige unserer Forschungsarbeiten vorstellen. Ehsan Matour von der Hochschule Mittweida, Professur Fertigungsautomatisierung, wird zum Beispiel einen Vortrag halten über drei verschiedene Methoden des Teachings für Roboter, mit denen Menschen diese ohne Vorkenntnisse im Programmieren steuern können. Eine davon hat er selbst entwickelt. Der 34 Jahre alte studierte Elektro- und Informationsingenieur lebt seit 2021 in Mittweida und arbeitet gerade an seiner Dissertation.
Im Kontext des PAL-Projekts können die Ergebnisse seiner Forschung im sogenannten Living Lab „Hybride Arbeitssysteme“ an der Hochschule Mittweida besichtigt werden. Hier entwickelt er aktuell in Kooperation mit dem Lausitzer Unternehmen Caleg Group ein Programm für einen kollaborativen Roboter zum Entgraten von Bauteilen aus Metall. Die besondere Herausforderung besteht darin, dafür zu sorgen, dass der Roboter genau den Druck ausübt, der für einen erfolgreichen Entgratungsvorgang notwendig ist.
Dafür muss er sich mit physikalischen Berechnungen auseinandersetzen und diese beim Programmieren einbeziehen. Ehsan arbeitet auch an einem Konzept, welches es ermöglichen soll, einem kollaborativen Roboter ohne Programmierkenntnisse Bewegungsabläufe “anzutrainieren“. Dafür setzt er die Mixed-Reality-Brille HoloLens ein. Mitarbeitende in der Produktion könnten mit dieser Methode zukünftig beispielsweise einem Roboter beibringen, ein bestimmtes Bauteil aus einer Box zu nehmen und an eine andere Stelle zu transportieren, indem sie lediglich die dafür notwendigen Bewegungen mit den Händen machen.
Tag 2
Auf dem Weg von unserem Hotel am Flughafen von Nizza zur Universität erzählt mir Ehsan ausführlicher von dem nächsten großen Ziel, auf das er aktuell mit all seiner Energie hinarbeitet: seine Dissertation. Er beschäftigt sich dafür mit Reinforcement Learning, einem Bereich des Maschinellen Lernens. Dafür erstellt er ein KI-Modell, mit dessen Hilfe auf Basis von einer Art Belohnungssystem ein Roboter trainiert werden kann, einen Gegenstand zu greifen. In der Simulation führt der Roboter die gleiche Bewegung etwa hunderttausendmal aus. Ob das mit einem Industrieroboter ebenfalls funktioniert, weiß Ehsan allerdings noch nicht.
Es ist nicht sein erstes KI-Projekt. Eine frühere KI-Entwicklung haben wir bei Auftritten von PAL schon häufiger gezeigt: ein Demonstrator, mit dem man „4 gewinnt!“ gegen eine KI spielen kann. Ein Sieg ist kaum möglich, ein Unentschieden erfordert viel Spielerfahrung, aber es macht Spaß, es trotzdem auszuprobieren und dem Roboter dabei zuzusehen, wie er die handtellergroßen Chips greift und in das Holzgestell steckt.
9 Uhr beginnt die Konferenz mit einer Key Note von Dr. Roger Daglius Dias von der Harvard Medical School in den USA. Er spricht darüber, dass der Fokus in der medizinischen Forschung bisher vorrangig auf der Wirksamkeit von Medikamenten lag, während Aspekte des Handelns des medizinischen Personals bisher kaum eine Rolle spielten. Und dass, obwohl man weiß, dass 80 Prozent der vermeidbaren Fehler bei Operationen auf Schwierigkeiten in Kommunikation und Teamwork zurückzuführen sind! In seinem Forschungsprojekt hat er sich diesem Thema gewidmet. Im Operationssaal kommt zunehmend mehr Technik zum Einsatz und immer mehr Soft- und Hardware muss aufeinander abgestimmt und korrekt bedient werden. Die Zusammenarbeit zwischen Menschen und Technik spielt auch hier eine zunehmend wichtige Rolle, besonders dann, wenn es um vermeidbare Fehler geht. In seinen Untersuchungen hat er durch Kameras und Wearables verschiedene Biomarker der an einer Operation beteiligten Personen aufgezeichnet, zum Beispiel ihre Herzfrequenz und Bewegungsabläufe. Seine Forschungsergebnisse können nun bei der Entwicklung neuer Hard- und Software für Operationssäle sowie der Verbesserung von Prozessen und organisatorischen Aspekten genutzt werden.
Aber wie findet solches Wissen den Weg in die Praxis? An den Ergebnissen von Dr. Dias sind sowohl die US Air Force als auch die NASA im Kontext Weltraumforschung interessiert, beide haben seine Studien mitfinanziert. Finanzkräftige Partner für ein Forschungsprojekt zu gewinnen, wird in der Wissenschaft allgemeinhin als Erfolg bewertet. Aber wird das Wissen von Dr. Dias auch den Weg in Krankenhäuser finden? Und wäre Dr. Dias eigentlich erst dann wirklich erfolgreich, wenn sich die Quote der vermeidbaren Fehler bei Operationen aufgrund des Einbeziehens seiner Forschungsergebnisse tatsächlich reduziert? Oder ist es legitim, schon dann von Erfolg zu sprechen, wenn ein Forschungsprojekt so verläuft wie geplant?
Aus Ehsans Sicht geht es beim Thema Erfolg vor allem darum, welche Ziele ein Mensch hat und mit welcher Konsequenz sie verfolgt werden. Im Moment ist es seine Dissertation, die er unbedingt erfolgreich abschließen möchte. Für ihn beruht sein Erfolg als Wissenschaftler darauf, ob es ihm gelingt, seine Forschungen erfolgreich durchzuführen. Ob das Ergebnis später einen Weg in die praktische Nutzung findet, spielt für ihn persönlich dabei eine untergeordnete Rolle, auch wenn es aus seiner Sicht natürlich wünschenswert wäre.
Die große Lücke, die vielfach zwischen Forschung und Anwendung klafft, sieht nicht nur er als Herausforderung – über diesen Punkt haben wir auch in unserem PAL-Projekt schon häufiger diskutiert. Wir verfolgen mit unserem Verbund den Anspruch, diese Lücke kleiner werden zu lassen. Dafür wollen wir einerseits praktische Handlungsleitfäden entwickeln, die das Wissen aus der Forschung für die Praxis so aufbereiten, dass es durch Unternehmen genutzt werden kann. Und wir streben andererseits an, die jeweilige Lösung so zu gestalten, dass sie nach dem Ende der Förderung von PAL durch das BMBF auch ohne Unterstützung aus der Wissenschaft im Partnerunternehmen weiter anwendbar ist.
Am Abend beim AHFE- Bankett ist erstmals Zeit für ein Gespräch mit Fabian Dietrich und Stefanie Liebl. Die beiden vertreten die Westsächsische Hochschule Zwickau mit ihrem PAL-Forschungsprojekt zum Einsatz von Wearables und einer Tagebuchstudie bei der Untersuchung der Belastung von Beschäftigten. Erste Tests haben sie mit dem im Lausitzer Neukirch ansässigen Unternehmen Trumpf Sachsen GmbH durchgeführt, das Automatisierungslösungen für die Blechbearbeitung entwickelt, fertigt und betreibt. Für die beiden war die Key Note am Vormittag deshalb besonders spannend.
Am Nachbartisch sitzt Anja Koonen von der Universität Aachen. Sie ist Teil des WIN:A-Teams, dessen Aufgabe es ist, die Kompetenzzentren der Kohleregionen beim Transfer zu unterstützen. Aktuell arbeitet WIN:A beispielsweise daran, Forschungsergebnisse für Betriebsräte aufzubereiten und für diese Zielgruppe besonders wichtige Aspekte gezielt herauszuarbeiten.
Während wir im lokalen Umfeld unter Transfer vor allem unseren Anspruch verstehen, die Ergebnisse von PAL für möglichst viele Unternehmen in der Lausitz sichtbar zu machen, indem wir diese beispielsweise bei Veranstaltungen vorstellen, geht es in Nizza im Kontext Transfer vorrangig darum, sich mit Forschenden aus aller Welt auszutauschen, die an ähnlichen Themen arbeiten wie wir. In einem Gespräch mit Yingting Chen und Prof. Taro Kanno von der Universität in Tokio erfahre ich, dass das japanische Forschungsteam aktuell versucht, anhand der Analyse der Mimik von Teilnehmenden an kreativen Workshops herauszufinden, welche Skills diese im Brainstorming benötigen und anwenden. Auch wenn hier zunächst Grundlagenforschung erfolgt, gibt es durchaus schon Ideen, wie dieses Wissen in der Zukunft genutzt werden könnte. Denkbar ist beispielsweise, dass es zum Training von Avataren oder humanoiden Robotern genutzt wird, damit diese in der Zusammenarbeit mit Menschen in kreativen Prozessen in der Lage sind, Emotionen zu simulieren, die unterstützend wirken – etwas, dass wir Menschen intuitiv tun, indem wir beispielsweise zustimmend nicken, wenn unser Gegenüber eine Idee präsentiert. Das Thema finde ich sehr spannend, denn zwischenmenschliche Kommunikation beruht neben den gesprochenen Worten auf so vielen Details der unbewussten Körpersprache, von denen die Mimik ja nur ein Teilaspekt ist. Menschen, die Erfolge erleben, erfahren durch andere Anerkennung, durch Worte, durch Gesten wie zum Beispiel Beifall und eben auch durch unbewusst gesendete Körpersprache. Sie spüren, dass andere ihre Leistung bewundern, sich für sie freuen oder aber vielleicht auch die Ergebnisse selbst gern erreicht hätten. Das Feedback anderer, denke ich, ist wohl für das Empfinden von Erfolg ein essenzieller Aspekt.
Mit Blick auf die vielen Tische, an denen Menschen aus der ganzen Welt sitzen und sich über ihre Forschung austauschen, frage ich erst mich und dann meine Tischnachbarn, woran in der Wissenschaft tätige Menschen festmachen, ob jemand von ihnen erfolgreich ist. Ist es die Anzahl der Titel oder Veröffentlichungen, die jemand erreicht hat? Ist es die internationale Laufbahn, die Forschende erfolgreich sein lässt? Die Anzahl der Mitarbeitenden? Oder die Höhe der eingeworbenen Mittel für ein Forschungsprojekt?
Tag 3
Wir starten zeitig an unserem Hotel am Flughafen, denn die ersten Vorträge beginnen schon 8:30 Uhr. Mit der Straßenbahn fahren wir einmal quer durch die Stadt bis zur Universität. Von Station zu Station wird die Bahn immer voller. Wir haben alle ein 7-Tage-Ticket für 20,- Euro, die wir bei jedem Einstieg an ein Lesegerät halten müssen. An Haltestellen, wo viele Personen einsteigen, spürt man einen gewissen Stress bei den Einsteigenden, die versuchen, mit ihrem Ticket an eines der Lesegeräte zu kommen. Plötzlich steigen zehn (!) Kontrolleure ein, um die Tickets der Fahrgäste zu überprüfen. Zwei Fahrgäste müssen an der nächsten Haltestelle mit aussteigen. Einer der beiden ist offensichtlich ein Tourist, der allerdings nur eine Quittung in der Hand hält. Womöglich hat ihn die Bedienung des Automaten überfordert und er hat deshalb übersehen, dass das richtige Ticket erst nach der Quittung gedruckt wurde?
Ich nutze die Bahnfahrt wieder zum Austausch mit den anderen. „Erfolg ist das Streben danach, die Menschheit weiterzuentwickeln.“ Dieses Zitat von Jean-Luc Picard vom Raumschiff Enterprise gibt Robert Eckardt mir auf die Frage danach, wie sich für ihn Erfolg in der Wissenschaft definiert. Robert leitet die PAL-Geschäftsstelle und ist damit erster Ansprechpartner für alle Mitglieder des Konsortiums zu den verschiedensten Fragen rund um unser Projekt und die interdisziplinäre Zusammenarbeit. Er stellt auf seinem Poster seine Untersuchungen zu VR-Szenarien für die Inbetriebnahme einer Fräsmaschine und die Instanthaltung einer Drehmaschine vor.
Am Vormittag hören wir verschiedene Vorträge, darunter einen über eine Untersuchung zum Thema Technikstress. Für mich nach dem Erlebnis am Morgen ein spannender Input. Ich fotografiere einige der gezeigten Folien, denn vielleicht finde ich in den Darstellungen noch interessante Aspekte für ein Panel zu diesem Thema, dass ich für unsere PAL-Kooperationsbörse am 21. August 2024 in Spremberg vorbereite. Die Kontaktdaten von Riadh Ladhari aus Kanada nehme ich mit für die Kollegen von der BTU Cottbus. Er sammelt aktuell Studien zum Thema Technikstress und vielleicht ist ein Austausch dazu für beide Seiten interessant, da auch in Cottbus zu diesem Thema geforscht wird.
Danach beginnt für einen Teil unserer Gruppe die Poster-Session. Dr. Katharina Müller-Eppendorfer und ich stellen Interessierten unser Projekt mit der IMM electronics GmbH vor, bei dem es um die Einführung und Entwicklung eines Assistenzsystems zur Ergonomie-Unterstützung manueller Leiterplattenmontagen geht. Neben uns präsentieren Fabian Dietrich und Stefanie Liebl ihr Poster zum Einsatz von Wearables im Arbeitsumfeld und deren Datenauswertung.
Im Lauf des Tages führen wir verschiedene Gespräche an unseren Postern. Zwei Forscherinnen aus Finnland lassen sich zum Beispiel ganz genau erklären, wie wir die Personen, die unser datenbasiertes Assistenzsystem später nutzen werden, im Prozess beteiligen. Ich erzähle ihnen von den Workshops, die wir bereits durchgeführt haben und wie wir dabei vorgegangen sind.
Ehsan ist mit Blick auf seinen eigenen Vortrag bei der Konferenz schon etwas angespannt, denn er möchte seine Arbeit gut präsentieren. Sein Vortrag ist ein Baustein auf dem Weg zum Doktortitel – Veröffentlichungen wie die im AHFE-Sammelband, die einen Review-Prozess durchlaufen, sind für Wissenschaftler, die promovieren oder habilitieren, wichtig. Ehsan hat vor, drei Teaching-Methoden für Roboter vorzustellen und sie hinsichtlich ihrer Vor- und Nachteile zu vergleichen. Die erste, die er selbst entwickelt hat, verknüpft Mixed Reality mit dem Einsatz einer HoloLens. Bei der zweiten Methode kommt eine Gestensteuerung zum Einsatz, die ein Kollege von Ehsan mit Augmented Reality (AR) verknüpft hat. Die dritte Methode ermöglicht die Robotersteuerung über den Controller einer Playstation. Auch diese Idee stammt von Ehsans Kollegen, er hat sie weiterentwickelt auf eine kabellose Variante.
Alle drei Ansätze haben bisher die Experimentierphase noch nicht verlassen. Wenn sie in einer realen Umgebung so funktionieren wie in der Simulation, hätten sie zwei Vorteile: sie wären ohne Programmierkenntnisse anwendbar und der Roboter könnte schneller angelernt werden, ohne dass er manuell programmiert werden müsste. Hieraus könnte ein echter Mehrwert für die Arbeitswelt entstehen, der den unkomplizierten Einsatz von Robotern für bestimmte Aufgaben zum Beispiel in der Produktion ermöglichen und damit zur Entlastung der Mitarbeitenden beitragen würde.
Ehsans Forschung gehört ebenso wie Roberts VR-Projekt zum Living Lab „Hybride Arbeitssysteme“, das insgesamt drei Labore an der Hochschule Mittweida umfasst. Hier können interessierte Unternehmen sich über die Potenziale verschiedener Technologien in den Bereichen Adaptive Montage, Mobile Robotik und VR informieren.
Tag 4
Heute ist etwas Zeit, um noch mehr über die Arbeit von Stefanie und Fabian zu erfahren. Im Projekt mit Trumpf nutzt das Team der WHZ validierte und damit wissenschaftlich anerkannte Fragebögen, um die Belastung der Mitarbeitenden zu untersuchen. Gleichzeitig wird mit Hilfe der Wearables über das Tracking der Herzfrequenz ermittelt, ob es im Verlauf eines Arbeitstages besonders belastende Situationen gibt. Die Idee hinter den Untersuchungen ist, den hohen Aufwand von solchen Befragungen aller Beschäftigten reduzieren zu können, indem man anhand des Tragens der Wearables über einen bestimmten Zeitraum ermittelt, in welchen Arbeitsbereichen oder Abteilungen die Belastung überdurchschnittlich hoch ist und dann dort gezielt mit den klassischen Methoden der Arbeitsmedizin und -wissenschaft eine detaillierte Analyse vornimmt.
Im Projekt mit Trumpf arbeitet Stefanie auch mit dem Screening „Gesunde Arbeit“, das von ihrer Chefin Prof. Gabriele Buruck vom Lehrstuhl Gesundheits- und Pflegewissenschaften der WHZ mitentwickelt wurde. Es ermöglicht die ausführliche Analyse eines Arbeitsplatzes, aus der wiederum Empfehlungen für die Beschäftigten abgeleitet werden können.
Stefanie erklärt mir, dass vor allem die psychische Belastung am Arbeitsplatz bis heute ein eher negativ belegtes Konstrukt ist, das für Führungskräfte oft nur schwer greifbar ist. Viele Menschen geben eine Überforderung ungern zu. Dazu gehört zum Beispiel auch, dass sie sich selbst unter Druck setzen, um erfolgreich zu sein und den Erwartungen von Vorgesetzten gerecht zu werden. Oftmals treten körperliche Beschwerden in den Vordergrund, die ihre Ursache aber auf der psychischen Ebene haben. Viele Unternehmen bieten ihren Mitarbeitenden zwar Rückenmassagen, Yoga oder sogar ein eigenes Fitnessstudio an. Sie stellen ergonomisch anpassbare Stühle oder höhenverstellbare Tische zur Verfügung. Psychische Aspekte wie das Betriebsklima hingegen werden kaum in den Fokus genommen.
Dazu kommt, dass bei der Bereitstellung ergonomischer Unterstützung oftmals nicht daran gedacht wird, auch die korrekte Anwendung zu begleiten. Wem nützt ein Tisch, an dem er abwechselnd im Stehen und Sitzen arbeiten kann, wenn dann zum Beispiel zu lange gestanden wird und dadurch neue Beschwerden verursacht werden? Jeden Arbeitsplatz einzeln anzusehen und das Screening „Gesunde Arbeit“ anzuwenden ist enorm zeitaufwendig. Daher kommen die Wearables im Arbeitsumfeld zur Anwendung, sodass die Ursachen gemessener Spitzen dann von einem Gutachter gezielt untersucht werden können.
Zum Thema Erfolg in der Wissenschaft hat Stefanie eine konkrete Meinung: „Kein Ergebnis ist auch ein Ergebnis, das sage ich auch meinen Studierenden immer wieder. Denn, indem ich mein Scheitern mit einem bestimmten Weg dokumentiere, wissen alle anderen, dass sie diesen Weg nicht wählen müssen. Ohne diese Herangehensweise würden wir in der Forschung nicht vorankommen.“ Auch wenn etwas schief geht in einem Forschungsprojekt, dabei stimmt ihr auch Katharina zu, macht es Sinn, darüber zu sprechen und diese Erkenntnis zu dokumentieren. Misserfolg kann also auch ein Erfolg sein? In jeder sinnvollen wissenschaftlichen Arbeit gibt es, so erklären mir die beiden, auch eine Limitation, also ein Hinterfragen, was man hätte noch besser machen können.
Wir haben etwas Freizeit und nutzen diese für ein wenig Team Building und einen kurzen Abstecher ins nahe Monaco. Dort schlendern wir am Hafen entlang, dessen Straßen sich einmal im Jahr in die Formel 1-Rennstrecke Monte Carlo verwandeln, und finden eine kleine Badestelle, die wir für eine Erfrischung im Mittelmeer nutzen. Die Rückfahrt wird dann zum Stresstest: am Bahnhofsgleis stehen Menschentrauben, Polizei und Ordnungskräfte kommen dazu. Der Zug verspätet sich und als er endlich einfährt, entsteht Chaos – Menschen drängen in den Zug, ohne diejenigen rauszulassen, die aussteigen möchten. Wir halten uns zurück und beschließen, auf den nächsten Zug zu warten. Lediglich ein Drittel der Leute konnten einsteigen. Ein junger Mann, der neben uns steht, zeigt uns in einer App, dass auch die nachfolgenden Züge Verspätung haben werden. Freitagabends sei es immer voll auf dem Bahnhof, aber so wie heute habe er es noch nie erlebt, obwohl er täglich von Nizza nach Monaco und zurück pendelt. Er ist an der Universität von Monaco für die IT verantwortlich. Die Uni ist klein, hier lernen nur 1.000 Studierende. Er erzählt uns, dass die Region als Sophia Antipolis bezeichnet wird und sich selbst mit dem Silicon Valley vergleicht. Der Name geht zurück auf einen Technologie- und Wissenschaftspark bei Antibes, der 1968 ohne Anbindung an eine industrielle Tradition oder die Nähe zu einer regionalen Universität gegründet wurde. Heute sind laut Wikipedia auf dem 2.300 Hektar großen Areal etwa 36.300 Mitarbeitende in rund 2.230 Unternehmen beschäftigt. Ich erzähle ihm von Silicon Saxony und dass unsere sächsische Hightech-Region inzwischen sogar in der internationalen Presse so betitelt wird.
Der Mann empfiehlt uns, noch etwas zu warten, ob der nächste Zug wie angekündigt kommt und es ansonsten mit dem Bus zu versuchen. Beim nächsten Zug, der Richtung Nizza fährt, wird plötzlich das Gleis gewechselt und alle Wartenden strömen dorthin. Da der Zug aber sehr kurz ist, wird uns schnell klar, dass auch hier keine Chance auf eine Mitfahrt besteht. Unsere psychische Belastung ist kurzzeitig sehr hoch und wenn wir jetzt die Wearables tragen würden, die an der WHZ getestet werden, würden diese das vermutlich deutlich anzeigen. Wir verlassen das Gleis und sehen, dass die Polizei inzwischen die Eingänge zum Bahnhof blockiert und niemanden mehr hineinlässt. Wir sind trotzdem mutig und verlassen den Bahnhof mit der Überlegung, es in zwei Stunden erneut zu versuchen. Und dann haben wir plötzlich richtig großes Glück: direkt vor dem Hinterausgang steht der Bus Nr. 602 direkt nach Nizza, der nur alle zwei Stunden geht, zur Abfahrt bereit. Unsere Beinahe-Odyssee endet also erfolgreich und ich frage mich, ob es Untersuchungen dazu gibt, zu wieviel Prozent das Glück zum Erfolg eines Menschen beiträgt, der sich ein Ziel gesetzt hat und darauf hinarbeitet?
Tag 5
Heute stellt Robert sein Poster vor und Ehsan wird seinen Vortrag dem Auditorium präsentieren. Die Session, in der neben Ehsan noch weitere Vorträge zu hören sind – u.a. zu projektionsbasierter Fehlerkommunikation in der Montage und einfach programmierbarer Robotik per Mixed Reality – wird moderiert von Anja Koonen von WIN:A und Prof. Leif Goldhahn, dem Projektkoordinator des PAL-Verbundes. Auch mit ihm habe ich in den vergangenen Tagen immer wieder darüber philosophiert, was Erfolg in der Wissenschaft bedeutet. Für ihn liegt die Definition von Erfolg letztendlich in der Hand jedes Einzelnen. Wer intrinsisch motiviert auf seine Ziele hinarbeitet, ohne sich Gedanken darüber zu machen, was andere über Erfolg denken, wird bereits auf dem Weg und erst recht, wenn das Ziel erreicht ist, eine tiefe Befriedigung und große Freude empfinden.
Wer im Bereich Technologie forscht, ist dabei aber auch in besonderem Maße von den Rahmenbedingungen abhängig. Beim Frühstück diskutiere ich mit Katharina, Robert und Ehsan über die verschiedenen Hürden, mit denen sie bei ihrer Forschung zu kämpfen haben. Ehsan zum Beispiel hat sich in seiner Forschung für die HoloLens von Microsoft entschieden. Die Abhängigkeit von verfügbarer Technologie und Software ist für die Forschung unter anderem deshalb eine Herausforderung, weil durch automatische Updates der Hersteller das Risiko besteht, dass im Forschungsprojekt entwickelte Inhalte plötzlich nicht mehr wie gedacht funktionieren, sondern angepasst werden müssen. Auch die Sicherheiten des IT-Hochschulnetzwerks, für die Menschen wie unsere ukrainische Bekanntschaft vom Bahnhof in Monaco verantwortlich sind, können Hürden darstellen, die berücksichtigt werden müssen. Das, denke ich, ist auch eine Form von Technikstress, mit der Forschende umzugehen lernen müssen.
Ich muss mich leider nach dem Frühstück schon von unserer Reisegruppe verabschieden, da ich am Mittag zurückfliege. Kurz erlebe ich noch einmal Technikstress, als ich die riesigen Schlangen bei der Gepäckabgabe sehe, dann aber erleichtert feststelle, dass meine Maschine von einem anderen Terminal startet, in dem bei der Gepäckabgabe überhaupt niemand wartet. Hier sitzt auch niemand am Schalter, sondern ich muss den Gepäckschein selbst drucken und meinen Koffer aufs Band heben – begleitet von einem freundlichen Service-Mitarbeiter, der darauf achtet, dass ich alles richtig mache. Beim Boarding stehe ich neben eine Gruppe Jugendlicher. Einer von ihnen sagt zu seinen Freunden: „Reich sein kann man nur, wenn andere arm sind.“ Ich bin kurz versucht, ihn zu fragen, ob er Reichtum denn nur über materielle Werte definiert. Aber ich verkneife es mir dann doch. Mit dem Reichtum, denke ich, ist es wie mit dem Erfolg: man kann sich an anderen orientieren, indem man versucht, diese zu überbieten. Oder man setzt sich ein Ziel und arbeitet daran, es zu erreichen, um sich selbst zu beweisen, dass man schafft, was man sich vorgenommen hat. Ehsan jedenfalls wünsche ich viel Erfolg auf seinem weiteren Weg zum Doktortitel.
Fotos: Katrin Meusinger, Fabian Dietrich, Robert Eckardt